Rendsburg – Es ging ja in den vergangenen Coronalockerungswochen viel darum, wer wann wie endlich wieder wohin verreisen darf. Lars Klehn und seine Frau Cornelia Brockstedt werden nach Großbritannien reisen. Das ist einerseits so wie die vergangenen sieben Jahre, denn auch da urlaubten sie auf der Insel. Und andererseits ist alles neu.
Denn erstens leidet Großbritannien massiv unter der Coronakrise. Zweitens verhandelt die britische Regierung, seit kurzem von der EU geschieden, mit Brüssel über den Scheidungsvertrag. Und drittens urlaubt Lars Klehn diesmal auch nicht, sondern übernimmt als Pastor die Deutsche Gemeinde London-West. Das vergangene Jahrzehnt hat der 54-Jährige für den Ev.-Luth. Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde gearbeitet. Es steht also eine ziemlich lange und besondere Reise an.
Sprechen und Zuhören - auch digital
Normalerweise würde sich der gebürtige Kieler zum Gespräch direkt am Fördeufer verabreden. „Damals hieß es ‚Arkaden-Café‘, da bin ich schon in den 1970ern mit meinen Großmüttern gewesen.“ Und auch eine zweite Möglichkeit wäre nett: Lars Klehn hätte sich vielleicht die Eierlikörtorte im Bordesholmer ‚Seecafé‘ gegönnt („hervorragend!“) und gemütlich mit seinem Besuch auf der Terrasse seines Hauses verspeist. Beides wären wunderbare Orte zum Sprechen und Zuhören - Fähigkeiten, die Klehn wunderbar beherrscht.
Die Zeiten aber sind besondere, sie haben zum Beispiel Videokonferenzen befördert. Und so sitzt Lars Klehn zum Gespräch nicht an der Förde oder auf der Terrasse, sondern im Büro unterm Dach seines Hauses in Bordesholm vor dem Notebook.
Hinter Klehns freundlichem Gesicht mit der schwarzen Wayfarer-Brille sind ein Dachschrägenfenster, ein breites Regal voller Ordner und Bücher sowie das Foto seiner Familie an der Wand zu erkennen: „Das sind Conny und ich mit Lara, unserer Tochter, bei ihrer Konfirmation vor sechs Jahren“, sagt Klehn. Heute studiert Lara Biologie in Göttingen. Das Kind ist also aus dem Haus, zudem kommen Klehns Eltern und die seiner Frau auch im fortgeschrittenen Alter noch gut klar und schaffen ihre Gärten alleine – die Gelegenheit also für den lang gehegten Auslandswunsch. „Ein Freund von mir sagt: Der beste Moment ist immer jetzt“, sagt Lars Klehn, „aber es mussten schon einige Dinge passen. Jetzt ist es soweit.“
Warum England?
Klehn wird also das hellgraue Gründerzeithaus in Bordesholm, das er mit seiner Frau vor elf Jahren in Bordesholm gekauft und saniert hat, vertauschen mit 78 Station Road, Barnes, einem gelblich verklinkerten Reihenhaus. Dessen Vordach zieht sich an der gesamten Front entlang und soll Fenster und austretende Bewohner vor dem Londoner Dauerregen schützen – doch erstens ist auch das nur ein Klischee, und zweitens, selbst wenn es stimmte, wäre das kein Thema für den Kieler Klehn. Also, was mag er an England? „Wir fühlen uns einfach wohl dort. Conny und ich schauen mit Begeisterung Serien und Filme auf Englisch. Ich hatte immer gute Begegnungen dort und mag die Art der Leute: offen und kommunikativ, den respektvollen Umgang miteinander, hanseatisch irgendwie.“
Klehn wird erstmals seit seiner Zeit in Bordesholm (in den Jahren 2000 bis 2006) und Rickling (bis 2009) wieder in einer eigenen Gemeinde Dienst tun. „London-West ist eine Freiwilligkeitsgemeinde, nicht streng territorial, sondern man fühlt sich dort zugehörig, bringt sich ein und zahlt Beiträge – und von diesen Beiträgen werden auch der Diakon und der Pastor bezahlt. Also ab August ich.“ Finanzielle Unterstützung durch eine Landeskirche wie in Deutschland gibt es keine.
Ein richtig guter Pastor
„Die Gemeinde bekommt einen richtig guten Pastor“, sagt Matthias Krüger, Propst im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde und damit Klehns bisheriger Dienstherr, „einen, der eine große Liebe zu den Menschen in sich trägt und die Liebe Gottes verkündet, ob hochdeutsch, plattdeutsch, englisch und immer mit strahlenden Augen.“ Denn auch op Platt hat Krüger ihn immer wieder predigen hören, so etwa beim Sommerfest der NDR-Landpartie in Rendsburg vor einigen Jahren. „Auch damit ist Lars Klehn immer dicht an den Menschen.“
Nun also künftig in London. Der Pastor und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer ist 1933 dorthin gegangen, um Abstand vom Nazi-Regime zu gewinnen und seine nächsten Schritte zu reflektieren. „Danach fragen Einige“, sagt Lars Klehn, „aber Bonhoeffer war in London-Ost. Dort war vor zwei Jahren sogar eine Stelle vakant, ich habe mir das angeschaut. Da hätte ich aber sehr viele Seniorennachmittage besuchen und Torte essen müssen. Wahrscheinlich hätte ich nach wenigen Monaten 160 Kilo gewogen“, sagt Klehn und lacht – ein breites lautes Lachen, das ansteckt.
Klehn ist ein Menschenfänger, vielleicht hat das die Gemeinde London-West von ihm überzeugt. Sie umfasst drei Kirchen, es gibt einen deutschen Kindergarten, eine deutsche Schule und die weltberühmte Uni in Oxford, es gibt viele Familien und zugleich weniger Trauungen oder Beerdigungen. „Sie haben mich wohl ausgewählt, weil sie sich weiterentwickeln möchten und neue ExPats gewinnen, also Deutschsprachige dort.“ Den Dialog wird er führen müssen und Sorgen teilen.
Es wird kompliziert
Viele Experten halten die Situation auf der Insel für extrem vulnerabel, ökonomisch wie emotional. Mit dem Coronavirus sind bislang vier Mal so viele Infizierte gestorben wie hierzulande – bei 16 Millionen Einwohnern weniger. Und so manche Firma reagiert auf Brexit, Corona, Rezession, indem sie ihr Londoner Büro schließt. Mancher wird arbeitslos, andere gehen zeitweise zurück aufs Festland und lassen ihre halbe Familie da; und die, die bleiben, wissen nicht, wie die Brexit-Verhandlungen ausgehen und welche Rechte sie danach besitzen als Deutsche in Great Britain. „Die Verunsicherung und das Leiden sind riesig gerade, bei Deutschen wie Briten.“ Umgedreht wird Klehn aber auch Gespräche diplomatisch abbiegen müssen mit Leuten, die Brexit für den besten Schachzug seit der Seeschlacht von Trafalgar halten. „Ich versuche mich auch da in konstruktivem Austausch und zu verstehen, was die Leute zu ihren Ansichten getrieben hat.“
Da hilft Klehn sicher sein umfangreiches Rüstzeug: Die vergangenen acht Jahre war er als Pastor für Personal- und Gemeindeentwicklung im Kirchenkreis unterwegs, hat zugehört, moderiert und supervidiert, Vorschläge unterbreitet, geschlichtet und Seelen umsorgt – kurz: Er hat angewandt, was er sich in umfangreichen Weiterbildungen draufgeschaufelt hat als Pastoralpsychologe und Coach. Noch in diesem Jahr wird Klehn die Lizenz zum Ausbilden erhalten und Andere zu Supervisoren schulen dürfen. Doch auch seine Ausbildung nach dem Theologiestudium als Krankenpfleger in Kiel und danach die Arbeit im Marienkrankenhaus Hamburg haben ihn menschlich sehr bereichert, sagt Klehn: „Das waren zum Teil schwere Erfahrungen, die ich aber nicht missen möchte – sie sind ein wichtiges Fundament meiner seelsorgerlichen Arbeit.“
Corona und die Folgen
„Was mir das Herz zerreißt“, sagt Klehn, „das sind unsere älteren Mitmenschen, die sich jetzt wegen des Coronavirus um ihre Gesundheit sorgen – und denen zugleich das genommen wurde, was Kirche als sozialen Ort ausmacht: der Seniorenkaffee, der Händedruck und Schnack. Das ist wichtig, dass wir dort in den kommenden Monaten viel hinschauen. Und ebenso auf die Kasualien, also Beerdigungen, Taufen, Hochzeiten: Da sind wir am engsten mit der Gesellschaft verbunden und werden ebenfalls sehr gebraucht. Das war jetzt in der Krise deutlich zu spüren.“
Dass Klehn sich die Ermutigung aus dem Philipperbrief „Freut euch in dem Herrn allewege, und abermals sage ich: Freuet euch!“ für seinen Abschiedsgottesdienst ausgesucht hat, ist alles andere als willkürlich. Er kann sich gut erfreuen – an seinem Glauben, an seinen Mitmenschen, an der Natur. Grillen und Kochen mit Freunden. Schwimmen in Langwedel im Lustsee bei 16 Grad. Ein toller Wein. Mitbrüllen beim THW.
Der Videochat endet. Klehn hat viele Kartons zu packen dieser Tage, Reiseempfehlungen zu studieren und viele – nun ja, nicht Hände zu schütteln, aber coronakonforme Abschiedsgrüße auszutauschen. Aber auch das, sagt Lars Klehn noch, habe ihn sehr ermutigt: wie schnell und wie kreativ sich viele Kirchengemeinden digitalisiert haben seit März. „Es hat vielleicht solch eine Zwangslage gebraucht, eine Art Corona-Schub in Richtung Kirche 2.0. Ich glaube, viel davon wird bleiben, auch wenn wir in der neuen Normalität angekommen sind. Und auch analog gab es ja viele kreative Ideen, von den Pfadfindern mit ihrer Einkaufshilfe bis zu Psalmen auf Kirchentüren, also diakonisch-helfend wie auch verkündigend! Die Pastorenkollegen haben sich mehr vernetzt und gemerkt, dass wir einander brauchen mit all unseren Gaben. Das wird auch die Regionalisierung in unserem Kirchenkreis voranbringen.“
Der Verabschiedungs-Gottesdienst für Lars Klehn findet statt am Montag, 22. Juni um 17 Uhr in der Christkirche in Rendsburg. Aufgrund der Corona-Auflagen sind die Plätze limitiert – Interessierte müssen sich zudem bis zum 15. Juni beim Kirchenkreis anmelden: per Mail <link aktuelles details news craig-gott-und-die-liebe.html>an susanne.wieben[at]kkre.de