Was macht eigentlich ein Militärseelsorger? Zum Dienst der Militärseelsorge gehört die Begleitung von Soldatinnen und Soldaten in ihren Einsätzen. Der evangelische Militärpfarrer Christian Tröger aus Eckernförde war im November und Dezember an Bord zweier Marineschiffe in der Ostsee unterwegs. Hier schildert er seine Eindrücke.
Wenn man sich – neu an Bord einer Fregatte – nur einmal umdreht, weiß man schon nicht mehr, wo vorne und hinten ist: „In welche Richtung fahren wir eigentlich?“, frage ich, als sich das Schiff etwas stärker bewegt und mir kurz schummrig im Kopf wird. „Da lang“, zeigt mir der Erste Offizier und unser Gespräch in ihrer fensterlosen Kammer geht weiter. Wir haben den Marinestützpunkt Kiel hinter uns gelassen und nehmen nun Kurs auf Finnland.
Als ich fünfeinhalb Wochen später in Wilhelmshaven mit gepackten Taschen wieder von Bord gehe, geht es mir ähnlich: Weihnachten steht vor der Tür, doch ich weiß erst einmal nicht, wo es für mich langgeht. Ich brauche ein paar Tage, um mich wieder ins Leben an Land einzufinden.
Zwischen Kiel, Mitte November und Wilhelmshaven, kurz vor Weihnachten liegen meine ersten achttausend Seemeilen in der maritimen Einsatzbegleitung. Eine Urkunde über meine Zeit an Bord der Fregatte Hessen hängt nun gerahmt an der Wand meines Büros: Marinesoldaten, die zum Gespräch kommen, sollen sehen, dass ihr Pastor keine Landratte ist.
Begleiten, ohne im System aufzugehen
Schon auf dem Foto erkennt man gleich, dass ich Zivilist bin: Hände in den Taschen und Wollmütze auf dem Kopf. So würde sich kein Soldat in Uniform ablichten lassen. Als eingeschiffter Militärseelsorger ist man zwar für eine gewisse Zeit Teil der Besatzung, trägt den Bord- und Gefechtsanzug wie die Soldatinnen und Soldaten auch und findet sich irgendwie in die Ordnung des Schiffes ein. Aber man gehört andererseits nicht voll und ganz dazu, tanzt aus der Reihe, mal bewusst und elegant, mal tollpatschig oder ohne es überhaupt zu merken. Wenn es gelingt, kann man so ein Stück weit begleiten und Gesprächspartner an Bord sein, ohne komplett im System aufzugehen. Mitten in einer militärischen Einheit ist es doch ein kirchlicher Auftrag, den ich da als Militärpfarrer übernommen habe.
Die Soldatinnen und Soldaten sind bald ein halbes Jahr unterwegs und der nächste Einsatz dieser Art ist bereits für das Frühjahr angesetzt. Gemeinsam mit anderen Nationen bilden sie den Ständigen NATO-Marineverband in Nord- und Ostsee sowie im Nordatlantik: Seeraumüberwachung, militärische Präsenz, Manöver und Übungen, Ausbildung, Repräsentation – und bei all dem immer bereit, als „Speerspitze der NATO“ das Bündnis militärisch zu verteidigen, sollte es wirklich einmal zu einem Angriff kommen.
Dieser Dienst wird rund um die Uhr geleistet, im Schichtsystem der „Seewachen“. Über 230 Personen sind an Bord der Fregatte, davon ein beträchtlicher Teil von anderen Marineschiffen „ausgeliehen“, die zurzeit in der Werft liegen. Auch Soldatinnen und Soldaten anderer NATO-Staaten sind Teil der Besatzung, denn die Hessen ist im Jahr 2023 das Flaggschiff des Verbands. Viele Monate der Abwesenheit von zu Hause kommen übers Jahr zusammen. Familie, Freunde und überhaupt das Leben daheim sind oft Gesprächsthema bei meinen Rundgängen.
Hohe Motivation und hohe Belastung
Dabei begegne ich vielen hochmotivierten Menschen, was mich vor allem bei den jüngeren Besatzungsmitgliedern freut: Stolz bekomme ich gezeigt und erklärt, was da tags und nachts zu tun und worauf dabei zu achten ist oder was sie dafür zu lernen haben. Ich merke, wie sehr sich viele hier mit ihrem Dienst identifizieren. Aber ich sehe auch, wie deprimierend es für Einzelne ist, wenn sie zeitweise keinen Sinn im konkreten Einsatzgeschehen erkennen können.
Hinzu kommen die Entbehrungen und Belastungen, die der Dienst auf See mit sich bringt. Manch einem sieht man seine Überlastung auch deutlich an. „Mit dem Geld aus der Seefahrt ermöglichst du deiner Familie ein gutes Leben, aber du hast selbst kein Leben mehr“ – das ist sicher eine Momentaufnahme, aber in diesem Moment ist es bittere Wahrheit für einen Soldaten, der sich bei mir Luft macht.
Trotz solcher Tiefpunkte wünsche ich den Besatzungsmitgliedern, dass sie wertschätzen, was sie gemeinsam leisten. Ich meine damit nicht allein ihre oft anspruchsvollen Tätigkeiten an Bord: Als wir an einem Wochenende im Hafen von Klaipeda liegen, lerne ich meinen litauischen Militärpfarrerkollegen kennen. Wir verbringen den Samstag miteinander und bei unserem Gang durch die Stadt habe ich die Gelegenheit, mit Einheimischen ins Gespräch zu kommen. So bekomme ich einen deutlichen Eindruck davon, wie wichtig die NATO-Präsenz für viele Menschen in dieser Region ist.
Letzte Fahrt für die Spessart
Die Woche auf See zwischen Klaipeda und Kopenhagen verbringe ich an Bord des Versorgungsschiffs Spessart. Dieser deutsche Tanker ist ebenfalls Teil des NATO-Verbands, sozusagen seine schwimmende Tankstelle. Die Spessart steht dabei zwar im Auftrag der Bundeswehr, ihre 42 Besatzungsmitglieder sind aber bis auf wenige Ausnahmen keine Soldatinnen und Soldaten, sondern zivile Angestellte.
„Und“, fragt mich ein Besatzungsmitglied herausfordernd, „wie ist das, wenn man nicht nur mit Soldaten rumhängt, sondern auch mal mit echten Seeleuten?“ Wer nun wirklich die „echten“ Seefahrer sind, das kann ich natürlich nicht beurteilen. Aber es war sehr interessant für mich zu erleben, wie unterschiedlich es auf einem Kriegsschiff und auf einem zivil geführten Versorger zugeht, obwohl sie ja beide in demselben Einsatz unterwegs sind.
Meine Mitfahrt auf der Spessart war übrigens die letzte Gelegenheit dazu: Von Kopenhagen aus fuhr das Tankschiff zurück in seinen Heimathafen nach Kiel, bevor es nun, nach über 46 Jahren außer Dienst gestellt werden soll. „The Last Voyage“ stand auf einem großen Transparent in der Mannschaftsmesse, dazu viele Unterschriften, die auf dieser letzten Fahrt gesammelt wurden. Für ältere Besatzungsmitglieder geht mit der Spessart ein wichtiger Teil ihres Lebens zu Ende: Einer ist bereits im vierzigsten Jahr an Bord tätig. Auch viele Jüngere wirken mit dem Schiff sehr verbunden. Im Adventsgottesdienst in See haben wir diese besondere Zeit gewürdigt.
Ankunft im Heimathafen
„Die Stelling ist freigegeben“, wird über Bordlautsprecher durchgesagt. Die Angehörigen der Soldatinnen und Soldaten dürfen also an Bord kommen. Gelöste Stimmung ist nun überall in den Gängen der Fregatte Hessen. Wegen der Sturmflut in Wilhelmshaven ist das feierliche Einlaufen im Heimathafen zwar weniger feierlich ausgefallen als geplant, dafür aber ist das Wiedersehen nach Monaten des Einsatzes umso herzlicher.
Ich hingegen werde professionell in Empfang genommen: Der freundliche Fahrer des Militärdekanats wartet am Kai mit dem Auto auf mich, um mich zurück nach Eckernförde zu bringen. Von der Besatzung habe ich mich bereits gestern verabschiedet. Eine zollfreie Stange Zigaretten nehme ich mit von Bord. Auch die Reisetabletten, die mir meine Gemeinde damals zum Wechsel in die Marineseelsorge mitgegeben hat, auch die kommen ungeöffnet wieder mit heim – der frühere Landpfarrer ist halt keine Landratte mehr!